In diesem und den nächsten Immobilienratgebern wollen wir uns der Haftung des Werk- und Grundeigentümers für Schäden widmen. In einem ersten, tragischen Fall geht es um den tödlichen Sturz eines Mieters vom Balkon seiner Wohnung. Die Pensionskasse des Verstorbenen, die in Folge des Todesfalls eine Waisenrente auszurichten hatte, nahm Regress auf den Eigentümer der Liegenschaft. Sie machte geltend, das Geländer des Balkons der 1959 erstellten Liegenschaft entspreche nicht der SIA-Ordnung 358 «Geländer und Brüstungen» von 1996. Sie sah im Umstand einen Werkmangel, dass das Geländer nicht die geforderte Höhe von 100 cm, sondern lediglich eine solche von 82 cm aufgewiesen habe. Weil die Norm zum Zeitpunkt des Unfalls bereits seit über zehn Jahren in Kraft war, sah das oberste Solothurner Gericht darin einen Haftungsgrund.
Zu einem anderen Ergebnis kam das Bundesgericht. Es liege zwar grundsätzlich in der Verantwortung des Werkeigentümers, dafür zu sorgen, dass sein Werk bei bestimmungsgemässem Gebrauch weder Personen noch Güter gefährde. Dafür habe er die erforderlichen Massnahmen zu treffen. Der Grundsatz wird aber durch die Selbstverantwortung des Benutzers einerseits und die Zumutbarkeit der Beseitigung von Mängeln anderseits relativiert.
Allein die Tatsache, dass eine Baute nicht alle Vorteile der neuesten Technik aufweise, reiche nicht aus, sie als mangelhaft anzusehen, erwog das Gericht. Neue, höhere Anforderungen führten nicht automatisch dazu, dass ältere Werke nachgebessert oder aus dem Verkehr gezogen werden müssten. Vielmehr sei zu beurteilen, ob sie noch hinreichende Sicherheit böten. Im konkreten Fall bejahte dies das oberste Gericht und verneinte demzufolge die Frage des Werkmangels.
BGE 4A_382/2012, kommentiert in Baudepartement St. Gallen (Hrsg.): «Juristische Mitteilungen», IV / 2012