Ersessen statt bewilligt

Im letzten Ratgeber haben wir die Ersitzung von Dienstbarkeiten thematisiert. Heute wollen wir uns das ersessene Recht an der Ausübung des Grundeigentums vornehmen. Ein Beispiel: Der Eigentümer hat vor 35 Jahren auf seinem Grundstück ohne Baubewilligung eine bewilligungspflichtige Baute erstellt. Bis zum heutigen Tag wurde diese Ausübung des Eigentums von den zuständigen Behörden nie in Abrede gestellt, ein Baugesuch eingefordert oder der Rückbau verlangt. Denkbar sind als Beispiele auch die stillschweigende Nutzungsänderung von einem Stall in ein Ferienhaus, die Bautätigkeit über die Baubewilligung hinaus oder die unbewilligte Erweiterung eines bestehenden Gebäudes.

Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung verwirkt der Anspruch der Behörden auf Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes im Interesse der Rechtssicherheit nach 30 Jahren. Eine Ausnahme besteht, wenn die Wiederherstellung aus baupolizeilichen Gründen im engeren Sinn – bei ernsthafter und unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben der Bewohner oder Passanten – geboten ist.

Auf die Ersitzung kann sich nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung aber nur berufen, wer im guten Glauben gehandelt hat, das heisst, wer angenommen hat – und unter Anwendung zumutbarer Sorgfalt annehmen durfte –, seine Ausübung des Eigentums sei rechtmässig bzw. stehe mit der Baubewilligung in Einklang.

Ebenfalls nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung beginnt die Verwirkungsfrist erst mit der Fertigstellung des Gebäudes oder des strittigen Gebäudeteils zu laufen. Wird eine Baute laufend ausgebaut und vergrössert, kann sich der Eigentümer nicht mehr auf den ursprünglichen Zeitpunkt der Erstellung beziehen.